Chris: Auf der Straße

Autor: Provinzprinzessin

26. Mrz. 2021

„Niemand wird als Vollidiot geboren. Obwohl man manchmal so behandelt wird. Du bist genauso ein Mensch, wenn du auf der Straße lebst, ein Suchtproblem oder Depressionen hast.“

Chris ist jetzt 48. Sieben Jahre seines Lebens hat er auf der Straße verbracht. Er weiß, wovon er spricht, wenn er von Alkoholmissbrauch, Depressionen, Existenzängsten und Einsamkeit erzählt. „Es kann jeden treffen. Wir haben hier ehemalige Juristen, Ärzte, Firmenmanager.“ Mit „wir“ meint er das Team von Hinz und Kunzt, dem Hamburger Straßenmagazin, bei dem er seit 23 Jahren arbeitet. Hier können Obdachlose, sofern sie sich an bestimmte Regeln halten, Zeitschriften kaufen und anschließend auf der Straße weiterverkaufen. Die Hälfte des Gewinns geht dabei an den jeweiligen Verkäufer, die andere Hälfte in die Produktion der Zeitungen. Darüber hinaus finden die Wohnungslosen dort Suchtberater und Sozialarbeiter, an die sie sich wenden können, wenn sie Hilfe brauchen.

Als ich Chris frage, welches sein Lieblingsplatz in Hamburg ist, muss er nicht lange überlegen. „Meine Firma. Hinz und Kunzt ist für mich eine Art Ersatzfamilie. Hier habe ich meine Ansprechpartner. Wenn ich Probleme habe, weiß ich, dass sie für mich da sind. Die Menschen kennen mich seit vielen Jahren. Sie nehmen mich für voll. Und dieser Job macht mir so viel Spaß.“

Seine Augen blitzen vergnügt. Wie sehr er Teil der Familie ist und wie viel Spaß er hat, seht ihr auch in diesem kurzen, witzigen Video (nur 73 Sekunden, gerne ansehen!), in dem er uns einen #streetlifehack vorführt unter der Fragestellung: Ist Chris zu chic für die Straße?

Aber auch der Kontakt mit Menschen außerhalb der Firma ist ihm wichtig. Seit ein paar Jahren bietet Chris über Hinz und Kunzt spezielle Stadtführungen durch die Hamburger Innenstadt an. Dabei zeigt er den Menschen, wie und wo Obdachlose in ihrer Stadt leben, auf welche Plätze sie täglich angewiesen sind, mit welchen Widrigkeiten sie zu kämpfen haben. Die Führungen sind immer gut besucht.
„Die Rundgänge sind die beste Therapie für mich.“, sagt er und lächelt.

Er wirkt zufrieden und selbstbewusst. Als ich ihm das sage wird sein Lächeln ein wenig müder. „Früher hatte ich oft Selbstmordgedanken. Schon als Kind.“.

Weil seinen Eltern das Sorgerecht für ihn entzogen wird, wächst Chris in einer fremden Umgebung auf, in einem katholischen Kloster in Gelsenkirchen, unter „Pinguinen“, wie er die Nonnen nennt. Dort lernt er nichts über die Anforderungen der weltlichen Wirklichkeit, wie wichtig es wäre, einen Beruf zu erlernen, um seine Zukunft selbst gestalten zu können. Dort sei es nur wichtig gewesen, 14 Mal am Tag zu beten und die Bibel von vorne bis hinten zu kennen, sagt er.
Und er spricht von Missbrauch, erinnert sich an drakonische Strafmaßnahmen bei Fehlverhalten, „Einzelhaft“ für 14 Tage ohne Kontakt in einer fensterlosen, nackten Zelle, eine Klappe in der Stahltür, durch die das Essen gereicht wird, sonst nichts.
Bis heute schläft er unruhig deswegen, wirft sich hin und her, wacht auf, jede Nacht das Gleiche.

Mit 17 Jahren bricht er seine Dachdeckerlehre ab. Er schafft es nicht. Ein Grund ist seine große Prüfungsangst. Dann landet er auf der Straße. „Sieben Jahre war ich zu doof, mir Hilfe zu suchen. Ich habe mich für meine Situation geschämt. Außerdem dachte ich immer, ich müsse mich alleine darum kümmern! Scham ist eines der größten Probleme in so einer Situation.“

Die ersten zweieinhalb Jahre auf der Straße nimmt Chris alle möglichen Gelegenheitsjobs an. In seiner freien Zeit greift er zur Flasche, um seine Depressionen zu betäuben. Irgendwann ist er bei drei Flaschen Vodka am Tag angelangt. „Da war nix mehr mit Arbeiten.“

Also fängt er an zu betteln. Aber nie im Sitzen und nie mit einem Becher in der Hand. Immer auf Augenhöhe, wie er meint.

„So viel Stolz hatte ich noch“.

Eines Tages wacht er in Hamburg auf, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen ist.

Ihm fehlen vier Tage aus seinem Leben.
„So ist das, wenn man seinen Körper mit Drogen und Alkohol missbraucht.“
Ein Wendepunkt in seinem Leben, auf den er ungläubig und erschrocken zurückblickt.

In dem Willen, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, landet Chris bei Hinz und Kunzt. Wegen seines dauerhaften Alkoholkonsums wird er dort zunächst wieder weggeschickt. „Es gibt hier nicht viele Regeln, aber die wenigen werden sehr ernst genommen. Man darf nicht betrunken arbeiten, nicht beleidigend oder aufdringlich werden, nicht betteln.“

Mehrere Wochen dauert es, bis Chris seinen Alkoholkonsum reduzieren und bei Hinz und Kunzt anfangen kann. Nach ein paar Wochen ist er bei einer Flasche Vodka am Tag angelangt, schließlich bei vier oder fünf Bier täglich. „Ich musste wieder funktionieren“, sagt er jetzt bedrückt. Die Nachwirkungen seines hohen Alkoholkonsums merkt man ihm auch heute noch an. Er ist unruhig, wippt auf seinem Stuhl herum und seine Augen fliegen beim Sprechen hin und her.

Die Arbeit bei Hinz und Kunzt und die Spenden der Freundeskreismitglieder des Vereins ermöglichen Chris nach einiger Zeit eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung in Itzehoe, wo er seine Zeitungen verkauft.
Dort lernt er auch Ute kennen. „Irgendwann hab´ ich mich gewundert, warum ich immer Bauchweh bekommen habe, wenn ich zum Bäcker gegangen bin. Bis mir aufgefallen ist, dass es an Ute liegt, der Bäckerin. Ich kannte das nicht, verliebt zu sein. Ich bin unter katholischen Nonnen in den 70er Jahren aufgewachsen. Da gab´s Hiebe statt Liebe.“

In allen Einzelheiten erzählt Chris, wie er anfangs immer ein bisschen länger beim Bäcker bleibt, um mit Ute zu quatschen, wie sie irgendwann erst einmal die Woche, dann immer häufiger zu ihm nach Hause kommt, um ihm beim Haushalt zu helfen und wie die beiden schließlich zusammenkommen. Zehn Jahre sind sie ein Paar.

Dann holt Ute der Krebs.

Als ich ihn frage, wie er nach all diesen Schicksalsschlägen und dunklen Jahren immer noch so positiv auf das Leben und auf die Menschen blicken kann, lächelt er mich offenherzig an. „Das hab´ ich vor allem durch Ute gelernt. Und durch Hinz und Kunzt. Früher habe ich immer nur schwarz-weiß gesehen. Jetzt nehme ich die Sonne wahr, die Wolken und die Blumen. Und ich habe gelernt, dass man immer das Positive im Menschen sehen sollte. Dieser Gedanke hat mich nie aufgeben lassen. Und der, dass man kein gutes Essen mehr bekommt, wenn man tot ist.“

Dass man ihm seine Leidenschaft fürs Essen inzwischen körperlich ansieht, macht Chris nichts aus. Er kocht gerne selbst und trifft sich einmal die Woche mit einer Kochgruppe. Auch sonst gestaltet er seine Freizeit vielseitig, trifft sich mit Leuten, geht ins Kino oder ins Theater – oder ins Fußballstadion.

Aber was er am meisten schätzt, seit er nicht mehr auf der Straße lebt, ist das Gefühl der Sicherheit. Er müsse nicht mehr ständig aufpassen, dass ihm seine wenigen Sachen gestohlen werden oder ihn auf der Straße jemand angreift. Er hat ein richtiges Badezimmer mit laufendem Wasser, Dusche und Toilette, ein Bett und genug zu Essen. Das Leben macht ihm keine Angst mehr.

„Es macht Spaß. Ich glaube daran, dass man immer selbst etwas aus seiner Situation machen kann.“, sagt er.

Das klingt ehrlich. Und hoffnungsvoll.

 

Hinz und Kunzt hilft Menschen in Hamburg, gibt ihnen eine Arbeit, Heimat und Familie.
Hier könnt Ihr für sie spenden.